Warum küssen wir uns unter einem Mistelzweig?
Es war einmal vor langer Zeit, als sich ein kleiner Samen in den Baumkronen niederließ und zu einer grünen Pflanze heranwuchs. Im Laufe der Jahrtausende begannen sich Legenden und Sagen um diese ungewöhnliche Pflanze zu ranken, die sich bis heute in den kulturellen Bräuchen verschiedener Länder widerspiegeln. Besonders bekannt ist der traditionelle Kuss unter einem Mistelzweig. Doch was macht die Pflanze so einzigartig und woher kommt der Weihnachtsbrauch?
„Under the mistletoe“
Während der Weihnachtszeit kommt man an den grünen Zweigen mit den kleinen, runden Beeren kaum vorbei: In Hauseingängen, an Fenstern oder in den Wohnstuben sorgt er für weihnachtliche Atmosphäre und selbst aus dem Radio singt uns Justin Bieber entgegen, wie er „under the mistletoe“ steht und seine Angebetete küsst. Tatsächlich gehört der Kuss unter dem Mistelzweig zu einem recht bekannten Brauch, der in vielen europäischen Ländern sowie in Amerika verbreitet ist. Doch warum küsst man sich unter einem Mistelzweig? Um dieser Frage auf die Spur zu kommen, gehen wir erst einmal ein paar Schritte zurück und sehen uns die Mistelpflanze einmal genauer an.
Die Geschichte der Misteln:
Die Vorfahren unserer heutigen Mistelgewächse sollen bereits vor Millionen von Jahren während der Kreidezeit existiert haben, als sich noch Dinosaurier auf der Erde tummelten. Schon damals wuchsen die Pflanzen nicht wie andere auf dem Boden, sondern „schwebten“ quasi in luftiger Höhe zwischen den Ästen der Bäume.
Solch ein Leben fernab der Erde ist für die Mistel nur möglich, weil sie sich zum Teil am Baum bedient: So kann sie zwar mit ihren immergrünen Blättern selbstständig Fotosynthese betreiben, muss aber, um sich mit Wasser und Nährstoffen zu versorgen, auf den Baum zurückgreifen, indem sie die Versorgungsbahnen des Baumes anzapft und ihm Wasser und Nährstoffe absaugt. Um sich dagegen zu wehren, versuchen die Bäume den Halbschmarotzer zu überwallen, was dazu führt, dass sich die Äste verdicken.
Doch wie ist die Mistel überhaupt auf den Baum gekommen? Ursprünglich soll der Mistel ein kleines pelziges Beuteltier geholfen haben, die die Samen durch ihren Kot von Ast zu Ast getragen haben. Vor circa 25 Millionen Jahren kamen dann die Vögel als Transporteure hinzu. Auch heutzutage sind unsere gefiederten Freunde stark an der Verbreitung beteiligt. Denn nach dem Naschen an den Mistelbeeren bleiben an ihrem Schnabel meist noch klebrige Reste übrig, die sie auf andere Zweige verteilen können. Außerdem scheiden die Vögel die Samen, die sie gegessen haben, unverdaut wieder aus, sodass sich auch durch den Vogelkot Mistelsamen kilometerweit verbreiten können.
Mit wundersamen Zauberkräften
Vermutlich liegt in der merkwürdigen Erscheinung der Mistel einer der Gründe für die mystischen Geschichten und Bräuche vergraben, die sich um die seltsame Pflanze ranken. Denn für die Germanen, Griechen und Kelten war die Mistel eine Art göttliches Zeichen, da sie quasi zwischen dem göttlichen Himmel und der irdischen Erde wuchs. So schreibt der römische Naturforscher Plinius der Ältere rund 77 nach Christus beispielsweise über die Kelten: „Nichts ist den Druiden – so nennen sie ihre Magier – heiliger als die Mistel und der Baum, auf dem sie wächst, wofern es nur eine Eiche ist. […] Sie meinen wahrhaftig alles, was auf jenen Bäumen wächst, vom Himmel gesandt und ein Kennzeichen des von der Gottheit selbst erwählten Baumes sei.“ Nach den Überlieferungen dürfe die Mistel zudem nur an einem sechsten Tag nach Vollmond mit einer goldenen Sichel geschnitten werden. Auf diese alten Bräuche spielt auch „Asterix und Obelix“ an: Für den Zaubertrank, der den Galliern starke Kräfte verleiht, damit sie sich gegen die römische Legion wehren können, schneidet der Druide Miraculix mit einer goldenen Sichel eine Mistel von einer Eiche. Und dank der Zauberkräfte der Mistel gewinnen die Gallier die Schlacht gegen die zahlenmäßig überlegenere Legion.
Gegen Dämonen und Hexen
Auch im Mittelalter fand die Mistel großen Anklang. Dabei wurde sie vor allem als Schutzpflanze vor bösen Geistern, Dämonen und Hexen eingesetzt. So wurde sie als Amulett um den Hals getragen, am Dachstuhl befestigt oder an Stalleingänge und Haustüren gehängt – wie wir es auch jetzt noch an Weihnachten und Neujahr machen. Doch auch wenn uns der Glaube an böse Hexen verlassen hat, spielt der Mistelzweig als Glücksbringer der Liebe noch immer eine Rolle – eine Bedeutung, die ihren Ursprung vielleicht in der nordischen Mythologie hat.
Ein Kuss der Liebesgöttin
In der nordischen Mythologie nimmt die Mistel eine tragische Schlüsselposition ein, die den Anfang vom Untergang des Götterreiches Asgard markiert. Doch beginnen wir von vorne: Nach einem Traum, in dem der Sonnengott Balder, der Sohn der Liebesgöttin Frigga, stirbt, ist seine Mutter beunruhigt. Sie macht sich daher auf den Weg und nimmt allen – jedem Element, jedem Tier und jeder Pflanze – das Versprechen ab, ihren Sohn unversehrt zu lassen. Nur den Mistelzweig hoch oben in den Baumkronen besucht die Liebesgöttin nicht.
Als nun die anderen Götter in einem Spiel mit verschiedensten Gegenständen auf Baldur schießen und sich darüber amüsieren, dass er immerzu unverletzt bleibt, nutzt der böse Gott Loki die Gelegenheit: Er gibt Baldurs blinden Bruder Hödur einen Pfeil aus Mistelholz, der damit, ohne es zu wollen, seinen Bruder tötet. Die Tränen, die Frigga über den Tod ihres Sohnes vergießt, verwandeln sich in die weißen Beeren des Mistelzweigs.
Erst nach dem Untergang der alten Welt, aus der eine Neue entstehen wird, soll Balder aus dem Totenreich zurückkehren dürfen. Es wird auch erzählt, dass es nur Frigga möglich gewesen sei, ihren Sohn zurückzuholen und sie darüber so glücklich war, dass sie jeden küsste, der unter dem Baum mit dem Mistelzweig stand – aus einem Gefühl der Liebe heraus und als Zeichen, dass ihnen kein Schaden zugefügt wird.
Weihnachtlicher Brauch
Woher der Brauch tatsächlich kommt, lässt sich abschließend nicht sicher sagen. Vielleicht haben auch verschiedene Sagen und Legenden eine Rolle bei der Entwicklung gespielt. Besonders an Bedeutung gewinnt der Weihnachtsbrauch aber auch während der viktorianischen Zeit, als es die strenge Etikette den jungen Paaren schwer gemacht hat, sich ein wenig näher zu kommen. Der Mistelzweig erschien vielen daher als eine willkommene Möglichkeit, sich besser kennenzulernen, ohne dafür von der Gesellschaft verurteilt zu werden. Dabei soll es – insbesondere in England – sinnvoll gewesen sein, einen Mistelzweig mit möglichst vielen Beeren aufzuhängen. Denn laut Brauch musste nach jedem Kuss eine Beere gepflückt werden – war keine mehr übrig, musste auch das Küssen aufhören. Auch heute noch gibt es in vielen Ländern weltweit die Tradition, sich zur Weihnachtszeit oder an Neujahr unter einem Mistelzweig zu küssen. Dabei soll beispielsweise in Skandinavien der Kuss unter dem Mistelzweig dem Pärchen ewige Liebe schenken – zumindest wenn der Brauch an Weihnachten, dem Fest der Liebe, geschieht.
Neben dem Kuss unter dem Mistelzweig gibt es viele weitere Traditionen rund um die Mistel und die Liebe. So soll ein Mistelzweig, der in der Silvesternacht unter dem Kopfkissen liegt, dem schlafenden Mädchen Träume von ihrem zukünftigen Ehemann bescheren. In Frankreich küsst man Verwandte und liebe Freund:innen, wenn man sich unter einem Mistelzweig begegnet. Auch bei alten Hochzeitsbräuchen spielt die Mistel als Fruchtbarkeitssymbol eine wichtige Rolle.
Wenn Sie nun auf den Geschmack gekommen sind oder die immergrünen Mistelzweige einfach gerne für dekorative Zwecke nutzen möchten, können Sie sich ja mal in Ihrem Garten oder in Ihrer Umgebung umschauen, ob Sie nicht eine Mistel finden können. So bevorzugt beispielsweise die Laubholz-Mistel, die eine Unterart der Weißen Mistel (Viscum album) ist, Laubgehölze wie Birke, Linde, Ahorn oder Apfel. Wenn also im Herbst die Laubbäume allmählich ihre Blätter verloren haben, sind die Laubholzmisteln kaum zu übersehen: Als kleine, runde Nester sitzen sie in den Baumkronen und blicken in ihrem immergrünen Blätterkleid auf uns hinunter. Daneben gibt es noch zwei weitere Unterarten der Weißen Mistel: die Tannenmistel und die Kiefernmistel, die wie die Laubholzmistel nach ihren Wirtspflanzen benannt wurden.
Die Eiche, die für die Kelten und Germanen eine besonders wichtige Rolle gespielt haben soll, wird übrigens sehr selten von der Weißen Mistel befallen. Hier findet man eher die Eichenmistel. Denn dieser sommergrüne Halbschmarotzer hat sich auf Eichen spezialisiert wie die Stieleiche, Roteiche oder Traubeneiche. Die Eichenmistel gehört allerdings einer anderen Familie an als die Weiße Mistel: Sie zählt zu den Riemenblumengewächse und nicht zu den Sandelholzgewächsen wie die Weiße Mistel. Darüber hinaus verliert die Eichenmistel ihre Blätter im Winter.
Allerdings sollten Sie darauf achten, dass die man die Misteln in freier Natur nicht ohne Erlaubnis abschneiden darf. Sie brauchen zwar keine Druiden mit goldener Sichel beauftragen, doch aus Baumschutzgründen ist der Schnitt genehmigungspflichtig. Denn viele Menschen haben schon ganze Äste von den Bäumen abgesägt und so dem Baum stark geschadet. Am besten wenden Sie sich einfach an die örtliche Naturschutzbehörde. Daneben gibt es die begehrten Mistelzweige auch auf Weihnachtsmarken oder Wochenmärkten zu kaufen.
Die einen lieben Misteln, die anderen hassen sie. Denn auch wenn man die Mistelzweige gerne für die winterliche Dekoration nutzt, kann es im eigenen Garten doch zu Problemen führen. Denn die immergrünen Halbparasiten können auch überhandnehmen und den Baum auf Dauer schädigen. Am besten dünnen Sie die Misteln daher regelmäßig aus oder entfernen sie komplett. Wenn Sie noch keine Misteln im Garten haben, aber gerne welche ansiedeln möchten, können Sie einfach ein paar reife Mistelbeeren ernten und sie in die Furchen der Rinde des zukünftigen Wirtsbaumes stecken. Schauen Sie einfach, ob im Frühjahr des darauffolgenden Jahres kleine Blätter zu sehen sind – dann war die Ansiedelung erfolgreich! Bis die Misteln allerdings längere Zweige mit den beliebten weißen Beeren bilden, können ein paar Jahre vergehen.
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